Montag, 13. September 2010

Im Wartezimmer des Todes

Es gibt Ereignisse, die lassen sich vorhersehen. Der Tod, zum Beispiel. Er tritt bei genau 100 Prozent der Menschen irgendwann mal ein. Und obwohl es ein Ereignis ist, das sich weltweit pro Sekunde mehrmals wiederholt, ist es für jene die zurückbleiben ein dramatisches Erlebnis. Als ich dem Tod das erste Mal ernsthaft begegnet bin, war ich elf Jahre alt. Das Telefon klingelte und eine seltsame Ruhe erfüllte den Treppenaufgang, wo der Apparat stand. Wir wussten, das „de Bappe“, wie wir unseren Grossvater nannten, im Spital lag, wo ihm ein Raucherbein abgenommen wurde und wo er schon einige Tage im tiefen Schlaf lag. Trotz dieser Art Vorbereitung, war der Anruf das Schlimmste, was mir bis dahin passieren konnte. Ich rannte am Telefon vorbei, die Treppe hoch in mein Zimmer. Meine Mama hat mich getröstet und getröstet, dabei war Sie doch selber sehr traurig. In das Taschentuch, in welchem ich meine Tränen sammelte, legte ich später ein paar eigene Küsschen und tupfte über Lippen und Stirn meines Grossvaters. Das zerknäulte Tuch legte ich schliesslich in ein aufklappbares Osterei aus Blech, das mir mein Grossvater kurz davor geschenkt hatte.

mini liebi Mama
Heute sitze ich neben einer tapferen Frau, in einem ähnlichen Alter, wie damals „de Bappe“. Sie hat ein Leben lang gearbeitet, gekämpft gegen den Krebs, sich gewehrt gegen Ungerechtigkeit und geholfen, wo immer Sie konnte. Kein Haar hat Sie anderen gekrümmt, kein böser Gedanke hat Ihre Lippen verlassen. Selbst in der Not fand Sie ein heiteres Sprüchlein, ein aufmunterndes Wort. Ihre Arme sind auf dem Tischchen vor Ihr eingestützt, der Kopf hat Sie auf ein kleines Kissen gelegt. Ihr Atem ist schwer, manchmal glaube ich einen Wortfetzen zu verstehen, mehr nicht. Ich spiele Ihr alte Lieder von Elvis Presley vor, die Sie so sehr liebt. Bis vor wenigen Tagen erzählte Sie von Ihrem Leben. Zum Beispiel, als Sie noch ein kleines Mädchen war und mit den Kindern vom Dorf, im „Leiterwäägeli“ an genau dem Haus vorbei ging, in welchem wir jetzt nebeneinander sitzen. Sie hatte es sich immer gewünscht, irgendwann einmal hier wohnen zu dürfen, ein Wunsch der im späteren Leben in Erfüllung gehen sollte. Und dann sagte Sie noch - viele Jahre später - in diesem Haus wolle Sie dann auch sterben. Nicht in einem leblosen Krankenhaus, nicht umgeben von teilnahmslosem Personal.

Heute sitze ich neben einer tapferen Frau, im Haus in dem sich dieser Kreis schliessen wird. Meine Schwester und ich wechseln uns mit unserem Vater ab. Sie wird sterben. Vielleicht heute, vielleicht übermorgen. Der Gedanke dran zerfetzt mein Herz und doch wäre es Ihr zu gönnen, wenn Sie diese furchtbaren Strapazen, Schmerzen und Ängste endlich hinter sich lassen dürfte. Wir warten zusammen, quasi im Wartezimmer des Todes. Aber der Tod hat viel zu tun. Vielleicht werde ich auch zu Hause sein, das Telefon klingelt und ich möchte daran vorbei rennen, die Treppe hoch in mein Zimmer. Ob Sie auch ganz sicher weiss, dass ich Sie liebe? Aber wer wird mich dann trösten, wenn nicht Mama. Ich habe ein paar Küsschen von Ihr und von mir im zerheulten Taschentuch gesammelt und werde es ebenfalls in das aufklappbare Osterei aus Blech, zu Ihrem Bappe legen – noch ein Kreis der sich schliesst. Ach Mama, wenn ich doch nur so viel tun könnte, wie Du immer für uns getan hast. Ich liebe Dich.

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