Mittwoch, 29. Oktober 2008

Was du heute kannst besorgen...

Bei Büchern ist es so, dass besser man sie findet, wenn man sich mit der Handlung, oder einer der Figuren identifizieren kann. Das ist bei Romanen so, ganz besonders, aber auch bei Sachbüchern, etwa über Schicksalsschläge oder Krankheiten. Der Verdacht liegt auch nahe, das eigentlich zufällige Übereinstimmungen bei ungewöhnlicher Häufung derselben den Anschein erwecken, das Gelesene stimme genau mit dem überein, was einem selber wiederfahren ist. Fatal für die reale Beziehung, wenn sich die Leserin in der hintergangenen Hauptdarstellerin wiedererkennt. Fatal aber auch, wenn man sich in der Rolle des Gescheiterten sieht.

Das geschieht natürlich nicht ohne Plan. Jede gute Geschichte spricht bewusst eines oder mehrere Gefühle des Lesers an. Menschen finden sich selber im Gelesenen wieder und suchen regelrecht nach dem entscheidenden Bezug mit einer der Figuren, mit der er sich anschliessend heimlich verbrüdern wird. Kartenleser und Astrologen nutzen diese Lücke im Betriebssystem des Menschen ebenfalls aus, indem sie dem "Patienten" Dinge erzählen die sie eh schon wissen. Beispielsweise wird jeder Hellseher einer 40jährigen Frau sagen, ihre Mutter hätte eine schwierige Jugend gehabt. Was aber nicht in den Sternen steht, sondern auf der Tatsache beruht, dass die Kindheit der Mutter in der Kriegszeit stattgefunden hat. Mit dieser Bestätigung im Sack kauft man dem Deuter - oder dem Romanschreiber - danach alles ab.

Mit dieser Überlegung gerade noch im Hinterkof bemerke ich, dass mir das Wort "Prokrastination" mit einer erschreckenden Häufigkeit über den Weg läuft. Tita von Hardenberg spricht in der gestrigen Ausgabe von polylux davon. Kathrin Passig und Sascha Lobo, selber Künstler der Verschiebens, haben ein Buch darüber geschrieben. Einer Schätzung zufolge, so verständigt mich google, seien 1/3 der Menschen typische Verschieber auf Später, bei denen dieses Verhalten bei übertriebenem Gebrauch in eine Psychokrankheit mutiere, eben der Prokrastination.

In einer Art Film, revuepassiere ich - ganz im Sinne des Mich-identifizierens mit den Hauptfiguren - all die Dinge, die noch zu erledigen wären:

Steuererklärungausfüllenbewerbungenschreibenrechnungenzahlenautoverkaufenartikelschreiben-bloggenkrankenkasseüberprüfenbeimamameldenkontaktepflegenaufräumengartenplattenverlegen-
handelsregistereintragvornehmeneinefirmagründenansspielnachzürichfahrenrenatoeinkasettliaufnehmen-
füreinkommensorgenalimentezahlendieweltrettenbeteribungenlöschenlassenwinterreifenaufziehenwandanmalen-
kelleraufräumendachrinnemontierenlaubwischenveloflickenbeialtenfreundenmeldenricardobeobachten-
abnehmensporttreibenfotossortierengeschenkeeinkaufengeldsparensteuernzahlenabstaubenstaubsaugen-
unddenmüllraustragen.

Hat irgendwie alles morgen auch noch Zeit, oder?

Der Kreis rechts zeigt die Funktionalität eines mit Prokrastination geschädigten Denkens. Dinge haben vorerst mal Zeit. Erste Warnschüsse werden ignoriert. Es folgt Ablenkung mit schönen Dingen, bis die unangenehmeren Aufgaben Ängste auslösen. Diese wiederum lösen ein Hemmnis zu Handeln aus, wonach der Teufelskreis kein Aufhalten mehr kennt und ein Verzug entsteht, den man als Aussenstehender als extrem wahrnimmt, als Betroffener aber ohne schlechtes Gewissen wegsteckt. Ist ein schlechter Moment sich wiederzuerkennen. Die Frage lautet nämlich: Wann ist das Verschieben wichtiger Dinge eine Krankheit? Der Steuererklärung bleiben noch fünf Tage, der Arbeitssuche noch drei Monate. Passt scho. Drammatischer klingt es aber, wenn man es umdreht: Die Steuererklärung hat einen Rückstand von acht Monaten, die Arbeitssuche deren 21.

Stirnrunzeln. Das ist schlecht. Aber trotzdem kann es warten bis morgen.

"Lethargie für Fortgeschrittene", "Aufschieben für Profis" - die Gemeinschaft der vermeintlich Faulen kennt eine Vielzahl selbstironischer Beschreibungen. Wohl mit dem Denken, dass für eine ernsthaftere Auseinandersetzung auch nächste Woche noch genügend Zeit bleibt. Und immer mehr erkenne ich mich in den beiden Prokrastinatiker Kathrin Passig und Sascha Lobo wieder, den Autoren vom Buch von weiter oben. Das Buch heisst "Wie ich die Dinge geregelt kriege - ohne eine Funken Selbstdisziplin" und soll weniger ein Ratgeber für Liegenlasser sein, als viel mehr Trost für Betroffene. Doch ich finde die Übereinstimmungen langsam beängstigend und mir ist gar nicht nach Selbstironie zumute.

Morgen mache ich die Steuererklärung. Ganz sicher. Und dann sofort alles andere*.





*vielleicht

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Lustig: beim Lesen gehts mir nie darum, mich mit irgendjemandem zu identifizieren im Buch. Nie. Es ist viel eher eine Flucht in eine andere Welt.
Wie sagt man so schön: Darum lesen wir ja Bücher, weil in denen alles anders ist. Oder so.